
Ein paar Gedanken zur Scham
Jeder Säugling, der das Licht der Welt erblickt hat, kann Freude empfinden, Angst, Wut und Trauer. Kein Säugling kann sich schämen; es geht einfach nicht. Die Natur hat es nicht vorgesehen und uns damit nicht ausgestattet. Wir haben es erst ab einem bestimmten Alter durch Interaktion gelernt, uns zu schämen. Die Scham ist eher so etwas wie ein Notprogramm des Verstandes.
Kein wildes Tier schämt sich, es unterwirft sich lediglich der natürlichen (Rang-)Ordnung der Familie, Herde, Horde, Rudel etc.; in bestimmten Situationen sogar der Löwe einer Löwin. Was wir Menschen als Scham der Tiere vorschnell interpretieren, ist lediglich ihre Unterwerfungsgeste; ihr Anerkennen der Rangordnung und damit dessen, was ist. Die Rangordnung gibt jedem Tier seinen sicheren Raum in der Herde; auch in der „Herde“ des Menschen. Weiteres dazu später.
Scham hingegen erkennt den Moment nicht an, sondern beharrt auf dem Fortbestand der Vergangenheit.
Für mich ist die menschliche Scham eine pervertierte Form der Unterwerfung. Dies zeigt sich deutlich im äußeren Verhalten der Scham. Schamhaftes Verhalten – gesenkter Blick, gesenkter Kopf, leise Stimme etc. – ist praktisch von einsichtigem Verhalten einem Ranghöheren gegenüber nicht zu unterscheiden. Und bis hier kann ich der Scham eine Natürlichkeit auch zugestehen; hier liegt ihr Ursprung: in der Demut; darin, die Natur, die Natürlichkeit und die natürliche Ordnung als/und das anzuerkennen, was ist. Sowohl im Außen, als auch in mir und mit den eigenen Bedürfnissen. Die Scham hingegen erkennt das Eigene nicht an. Sie stellt äußere Forderungen über die eigenen Bedürfnisse. Das schamhafte Verhalten entsteht somit nicht aktiv aus einem eigenen, natürlichen/impulsiven Wollen, sondern ist die Reaktion auf eine äußere Forderung!
Scham ist kein natürliches Gefühl, sie ist ausschließlich anerzogen. Auf Freud’s System bezogen: Angst, Wut, Trauer und Freude kommen aus dem Es; die Scham aus dem Über-Ich. Sie basiert auf einem Wertesystem und ist davon abhängig. Das Gefühl, das sich hinter der Scham verbirgt, ist vermutlich die Angst. Die Angst vor Gefühlen, den eigenen oder denen anderer und letztendlich vor dem Verlassen werden/-sein.
Scham ist das einzige Gefühl, für das eine weitere Person zwingend notwendig ist.
Kindern wird noch immer gesagt „Schäm‘ Dich!“, doch niemand würde ein Kind im Befehlston auffordern, Angst zu haben, wütend oder traurig zu sein. Selbst die Aufforderung „Jetzt freu‘ dich doch mal!“ ist nicht wortwörtlich gemeint, sondern auf tieferer Ebene das Gleiche wie „Schäm‘ Dich!“.
Scham entsteht durch einen umständlichen Lernprozess des Verstandes.
Ein Kind hat ein Bedürfnis an seine Bezugsperson und teilt dies mit. Das Bedürfnis des Kindes wird nicht wahrgenommen/erkannt. Daraufhin entstehen Gefühle – erst Wut und dann die Angst – im Kind, die sich körperlich ausdrücken, um auf sich aufmerksam zu machen. Jetzt wird das Kind zwar wahrgenommen, doch nicht mit seinem ursprünglichen Bedürfnis, sondern mit dem körperlichen Ausdruck seines Gefühls. Und somit wird nicht auf das Bedürfnis eingegangen, sondern auf das aus dem Gefühl resultierende Verhalten. Blöd nur, dass das Gefühl und das Verhalten vom Wahrnehmenden abgelehnt wird, warum auch immer. Die Art und Weise, wie das Kind seine Gefühle körperlich ausdrückt, wird unterbunden; durch Bewertung, in-Abrede-stellen, Ablenkung bis hin zur Unterdrückung. Gleichzeitig wird damit das Gefühl unterdrückt, erst recht das ursprüngliche Bedürfnis. Und eine weitere Ebene kommt hinzu: Der Wahrnehmende geht – zumindest ein Stück – aus der Beziehung. Das Kind erfährt also dreifaches Leid. Es wird nicht wahrgenommen, es wird in seiner Natürlichkeit nicht angenommen und es wird zurückgelassen. Daraus entsteht ein ungleich viel größeres Dilemma: Das Kind ist auf eine Beziehung angewiesen, damit seine Bedürfnisse erfüllt/gestillt werden können.
Ein Beispiel: Ein Kleinkind möchte die Nähe und Aufmerksamkeit seiner gerade nicht nur zeitlich gestressten Mutter mitten im vollen Supermarkt…
Da das Bedürfnis jedoch immer noch vorhanden ist, wird das Kind es auch erneut zum Ausdruck bringen/mitteilen. Es wird erneut nicht wahrgenommen und die Gefühle mit dem körperlichen Ausdruck/Verhalten entstehen ebenfalls erneut. Und erneut wird es unterdrückt/zurückgewiesen.
Mit der Zeit (be-)greift der Verstand und lernt, wie welches Verhalten, welche Gefühle und welche Bedürfnisse im Außen bewertet und als „negativ“ abgelehnt werden. Meldet sich also mal wieder ein „schlechtes“ Bedürfnis, so „erkennt“ der Verstand, welche „schlechten“ Gefühle und welches „schlechte“ Verhalten daraus entstehen/damit verbunden sind und versucht, diese zu unterbinden/zu kontrollieren. Wenn diese Kontrolle – warum auch immer – versagt, kommt im Außen die nächste Zurückweisung und oft mit dem Hinweis, das Kind wüsste es doch besser etc. Das Kind erlebt immer größere Ausgrenzung, Zurückweisung und keine Auflösung der Situation. Als einziger Ausweg bleibt ihm nur noch, das eigene Verhalten selbst als „falsch“, „schlecht“ etc. zu bewerten/zu erleben und dies seinem Gegenüber durch eine Unterwerfungsgeste mitzuteilen, um wieder in Beziehung gehen zu können und angenommen zu werden. Vielleicht wird dies alles auch leichter verständlich als „schlechtes Gewissen“.
Scham heißt, ein Gegenüber hat ein Problem mit dem natürlichen Verhalten eines Kindes und reagiert mit wütender Zurückweisung. Doch da das Gegenüber selbst nicht zwischen Gefühlen und Argumenten unterscheiden kann und bereits ein eigenes Wertesystem hat, wird es das Verhalten des Kindes negativ bewerten und dies dem Kind vermitteln. So lernt der Verstand des Kindes, wann/wie/warum es sich „falsch“ verhalten hat. Irgendwann ist dieser Maßstab so im Kind integriert, dass es seine Handlungen selbst bewertet. Um die Beziehung nicht zu gefährden, übernimmt das Kind die Verantwortung für die Wut des Gegenübers und „schämt“ sich, da es sich zum einen nicht unter Kontrolle hatte und zum anderen die Beziehung nicht gefährden will. Es versucht praktisch dafür zu sorgen, dass das Gegenüber in seiner Wut nicht getriggert wird, damit das Gegenüber zur Verfügung steht, um die Bedürfnisse des Kindes stillen zu können.
Wird jemand gefragt, wofür er sich schämt, wird es praktisch immer um „falsches“ Verhalten gehen. Dabei wird nicht erkannt, dass das Verhalten aus natürlichen Impulsen entstanden ist und erst hinterher im Außen als „Falsch!“ bewertet wurde. Im Grunde schämen wir uns also immer unserer Gefühle, um der daraus resultierenden Ablehnung zu entgehen.
Sich zu schämen setzt voraus, das eigene Verhalten zu bewerten und sich selbst zu mehr Kontrolle zu ermahnen. Kontrolliert werden dadurch das eigene Verhalten und die auslösenden Gefühle. Es ist also die Scham, welche die Gefühle von Angst, Wut, Trauer und Freude kontrolliert. Sie ist wie eine schleimige Masse, die über den eigentlichen Gefühlen liegt, alles zukleistert und erst mühsam durchdrungen werden muss, will man bewusst die Gefühle zulassen können. Je größer die Scham, desto weniger werden bewusst die Gefühle ausgelebt. Wenn Gefühle als gestaute Energie beschrieben werden, dann ist die Scham der Staudamm!
Daher bringt es auch nichts, die Scham auszuleben, sie wird dadurch nicht kleiner. Im Gegenteil, sie lenkt ab; ihr sollte überhaupt keine Aufmerksamkeit gewidmet werden. Wichtig ist lediglich, welche Gefühle von der Scham gedeckelt werden und sich dieser Gefühle zu widmen. Ist dort ein Gegenüber, dass mich mit meinen Gefühlen und dem resultierenden Verhalten daseinlassen und annehmen kann, brauche ich mich nicht mehr zu schämen. Mit anderen Worten: Gelingt es, die gestaute Energie dieser Gefühle wieder ins Fließen zu bringen, wird die Scham sich im Verhältnis ebenfalls verringern.
Denn die Natur verschwendet nicht. Für die gestaute Gefühlsenergie wird die haltende Gegenenergie, die Scham, gerade so groß sein, dass sie ein klein wenig überragt und sich immer dem anpasst, was erwartet und gebraucht wird.
Die Scham ist KEIN soziales Gefühl. Sie sorgt lediglich dafür, dass alles so bleibt, wie es ist und sich möglichst niemand mit seinen Gefühlen auseinander zu setzen braucht. Bei Kindern wird mittels der Scham ihre Natürlichkeit unterdrückt und ihr Verhalten dem Wertesystem der Erwachsenen angepasst. Sie werden „erzogen“.
Aus einem anderen Blickwinkel: Es wird Macht ausgeübt. Die Scham dient dem Machterhalt. Einem Kind wird – genau genommen – befohlen (auch wenn das keiner wahrhaben möchte), „Schäm‘ Dich!“. Tatsächlich gesagt wird: Unterwirf dich meinen Werten/Regeln etc. und Du darfst bleiben. Tust Du dies nicht, wirst Du verstoßen.
Derjenige, der die Scham einfordert und beschämt, ist in der Regel zwar innen ängstlich, jedoch für das Außen lediglich als wütend – mehr oder weniger bis praktisch gar nicht – wahrnehmbar. Die Wut versteckt sich so perfide in und hinter Regeln, Verboten, Erziehung, An- und Durchsagen; Sitten, Gebräuchen, Moral, Traditionen und Werten und besteht auf dem Erhalt der Vergangenheit, so dass wir von der gesamten „Zivilisation“ ständig und überall in unserem Verhalten - und indirekt in unseren Gefühlen - gemaßregelt und beschämt werden. Von Erwachsenen werden diese Formen der Wut als „normal“ und „berechtigte Forderung“ empfunden und dann wird daraus ihr „Recht“ auf Beschämung hergeleitet.
Wer versucht, einen anderen zu beschämen, verurteilt dessen Verhalten, ohne die Beweggründe dafür zu hinterfragen. Gleichzeitig wird nicht erkannt, dass das Verhalten des Anderen das eigene Selbst triggert, stresst und in Not bringt. Es ist einfacher, den Anderen zu beschämen, als sich mit der eigenen Not zu auseinander zu setzen. Mit anderen Worten: Dem Anderen wird die Verantwortung für die eigene Not hingeschoben und aufgedrückt.
Doch wenn es mir gelingt, zu jedem Zeitpunkt und immer wieder erneut die Ursache für Trigger/Stressauslöser, die mir im Außen begegnen, bei mir selbst zu suchen und somit meine Not anzuerkennen und schließlich sogar die Verantwortung für meine Reaktionsmuster zu übernehmen, dann entfällt irgendwann jeder Grund, mich selbst oder andere zu beschämen.
Es ist menschlich, das Menschliche in allem zu suchen, so auch in den Tieren. Daher ist es so schön einfach, im Verhalten von Tieren „Scham“ zu erkennen. Doch wenn man den Blickwinkel davon lösen kann und sich fragt, was bedeutet diese (Inter-)Aktion dieses Tieres bei Artgenossen, bei der Jagd, bei „Feind“-Kontakt oder einfach in ihrem ursprünglich natürlichen Umfeld und ohne den Menschen, so gibt es immer einen arttypischen Grund, warum sich das Tier genau so verhält.
Auch wenn Tiere sich erinnern können, auch, wenn sie traumatisiert sind, so leben sie doch ausschließlich im Moment und folgen ihren aktuellen Bedürfnissen. Daraus entstehende Konflikte werden sofort geklärt. Selbst wenn – z.B. aufgrund von Notsituationen – Bedürfnisse vorerst ungestillt bleiben, so wird weiter dem dringendsten Bedürfnis gefolgt. Scham ergibt in diesem Zusammenhang überhaupt keinen evolutionären Sinn. Sie würde aufhalten.
Und noch etwas: Kein Tier einer Herde wird mit seinem Verhalten absichtlich störend in den sicheren Raum eines ranghöheren Tieres eindringen (es sei denn, es stellt die Rangordnung in Frage). Dies würde lediglich Energieressourcen verschwenden und Energieverschwendung ohne Aussicht auf Fortpflanzung kommt in der Evolution nicht vor. Somit gibt es auch keinen Anlass für ein ranghöheres Tier, ein rangniederes zu beschämen. Und selbst bei einer Auseinandersetzung um die Rangordnung weiß hinterher jeder wieder, wo sein aktueller Platz ist. Der Ranghöhere wird zwar die Unterwerfung einfordern und auch erhalten, doch der Rangniedere von beiden wird (wenn überhaupt) allein ein Interesse an Veränderung haben. Keiner von beiden hat einen Grund, den anderen zu beschämen.
Am Ende geht es doch einfach nur darum, glücklich zu sein. Momentan verstehe ich als Glück, zu sein ohne zu haben, im Moment zu leben und ehrlich meinen Impulsen zu folgen im Vertrauen darauf, dadurch liebevoll für mich zu sorgen als Bedingung dafür, auch für meinen Nächsten liebevoll da sein zu können. Dies bedeutet für mich auch, jedes Gefühl bewusst zu leben und mich nicht durch Scham einzuschränken. Die durch das Ausleben entstehende Entspannung des Verstandes ist für mich Freude und das Glück. Mit Scham ist dies lediglich eingeschränkt möglich.